Geisteswissenschaftliches Kolleg (2017-2019): Stipendiat Michael Navratil erzählt von den Publikationsvorbereitungen der AG "Das gleichgeschlechtliche Begehren"

Eine Publikation kann der krönende Abschluss der gemeinsamen Gruppenarbeit auf den Kollegs sein. Auch die Gruppe „Das gleichgeschlechtliche Begehren und die Grenzen des Erlaubten – mann-männliche Bindungen und homosexuelles Verhalten in Kulturgeschichte und Kulturvergleich“ von Prof. Dr. Klaus van Eickels hat sich entschieden, ihre Forschungsergebnisse in einem Sammelband zu publizieren. Promotionsstipendiat Michael Navratil berichtet von den Publikationsvorbereitungen.
Herr Navratil, worüber arbeitet Ihre Gruppe im Kern?
Unsere Arbeitsgruppe befasst sich mit der Kulturgeschichte des mann-männlichen Begehrens; stark vereinfacht könnte man sagen: mit der Geschichte der männlichen Homosexualität. Allerdings bringt der Begriff "Homosexualität" eine ganze Reihe von Problemen mit sich, weswegen wir in unserem Kurs versuchen, ihn eher sparsam zu gebrauchen. Vor allem nämlich suggeriert dieser Begriff, dass es "die" Homosexualität immer schon gegeben habe und dass man heute, da die gesellschaftliche Akzeptanz für diese Form der sexuellen Orientierung deutlich gewachsen ist, nun endlich auch ihre Geschichte schreiben könne.
Tatsächlich aber existieren zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen verschiedenste Formen und Bewertungen mann-männlicher Bindungen und gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens. Eine kohärente Geschichte der Homosexualität lässt sich also gar nicht schreiben. Allerdings kann man konkrete Einzelaspekte dessen, was heute als Homosexualität bezeichnet wird – etwa eine gewisse Konzeption von Partnerschaft oder eine juristische Bewertung bestimmter sexueller Handlungen –, isolieren und dann zwischen verschiedenen Kulturen vergleichen. Auf diese Weise treten die Eigenheiten der jeweiligen Kulturen besonders deutlich hervor.
Wie sieht die Arbeit in der Gruppe konkret aus?
Konkret beschäftigen wir uns in der Arbeitsgruppe anhand einer ganzen Reihe von Quellen mit unterschiedlichen Ausprägungen mann-männlicher Bindungen und gleichgeschlechtlicher Sexualität von der europäischen Antike bis in die Gegenwart; wir nehmen aber auch außereuropäische Kulturen in den Blick, etwa die islamische Welt und den fernöstlichen Kulturraum.
Insgesamt versuchen wir, einen möglichst umfassenden Überblick über die große Bandbreite gleichgeschlechtlichen Begehrens in unterschiedlichen Kulturen zu gewinnen. Natürlich lässt sich dabei aus einer vergleichenden Perspektive auch die Spezifität unserer Zeit und ihrer ganz eigenen Interpretation von ‚Homosexualität‘ besser verstehen.
Zu welchem Zeitpunkt hat die Gruppe beschlossen, die Arbeitsergebnisse in einem Sammelband zu veröffentlichen?
Uns war von Beginn des Kollegs an bewusst, dass die Studienstiftung ein Abschlussprojekt der Arbeitsgruppe gegebenenfalls unterstützen würde. Das war für uns ein Anreiz, schon früh über ein derartiges Projekt nachzudenken. Die Möglichkeit eines Sammelbandes stand von der ersten Kollegwoche an vage im Raum. Über das genaue Konzept des Bandes haben wir uns dann in der dritten Woche des Kollegs geeinigt.
Seither bereiten mein Kollege und Mit-Herausgeber Florian Remele und ich den Band vor: Derzeit sind wir damit beschäftigt, die Einleitung, in der unser methodischer Ansatz umrissen werden soll, zu verfassen; da wir auch einige externe Beiträger*innen anfragen wollten, musste ein Call for Papers geschrieben werden; und natürlich kommt nach dem Abschluss des Kollegs dann noch die eigentliche Herausgebertätigkeit auf uns zu, also die Kommentierung und Einrichtung der Aufsätze sowie die Manuskripteinreichung beim Verlag.
Wir sind sehr dankbar, dass der Leiter unserer Arbeitsgruppe, Prof. Dr. Klaus van Eickels, uns bei diesen Arbeiten unterstützt und auch die Verlagsvermittlung übernehmen wird.
Sind alle Gruppenmitglieder in Form von Beiträgen an der Publikation beteiligt?
Das Interesse an einer Publikationsbeteiligung ist in der Arbeitsgruppe groß. Allerdings hatten wir nie vor, die Einreichung eines eigenen Beitrags zur Pflicht zu machen. Wir Kursteilnehmer*innen befinden uns ja alle in sehr unterschiedlichen Phasen unseres Studiums oder unserer Promotionszeit, wir haben unterschiedliche Erfahrungen mit der Publikation eigener Texte und auch sehr unterschiedliche fachliche Hintergründe, sodass eine Aufsatzpublikation nicht für alle Teilnehmer*innen im gleichen Maße sinnvoll oder leistbar ist. Das Abschlussprojekt ist zunächst einmal ein Angebot – und wir freuen uns natürlich, dass so viele der Kolleg*innen dieses Angebot zusammen mit uns wahrnehmen wollen.
Zusätzlich zu den Beiträgen aus dem Kurs planen wir vom Herausgeber*innen-Team auch noch, einige Beiträge von Autor*innen außerhalb des Kurses für den Band einzuwerben, sei es aus den Reihen der LGBT*-Gruppe der Studienstiftung, den Queer Stiftis, oder aus den LGBT*-Gruppen anderer Stipendiat*innenwerke: Derzeit sind wir etwa im Gespräch mit Stipendiat*innen aus dem Cusanuswerk und der Friedrich-Naumann-Stiftung. Auf diese Weise könnte der Band sogar ein stiftungsübergreifendes Profil gewinnen.
Welchen Impact trauen Sie Ihrem Buch zu?
Die Geschichte der Sexualitäten war lange Zeit ein vernachlässigtes Forschungsfeld. Seit dem Aufschwung der Gender Studies in den 1990er Jahren hat sich diese Situation glücklicherweise geändert. Allerdings sind gerade die Gender Studies als Forschungsansatz vor allem an Fragen der Geschlechtsidentität und der Subversion von geschlechternormativen Machtstrukturen interessiert, und zwar insbesondere in der Gegenwart; die Geschichte der Sexualitäten steht hingegen eher selten im Fokus.
Der Ansatz unseres eigenen Bandes ist weniger gender-theoretisch als dezidiert historisch: Wir versuchen, stark vom historischen Material her zu argumentieren und in einer vergleichenden Perspektive die Eigenheiten der jeweiligen kulturellen Lesarten gleichgeschlechtlicher Sexualität herauszuarbeiten. Gerade in einer solchen vergleichenden Perspektive tun sich zahlreiche interessante Forschungsfragen auf, die noch keineswegs erschöpfend behandelt wurden.
Unsere Hoffnung wäre, dass wir mit unserem Band die Produktivität einer genealogischen und komparativen Sichtweise auf die Geschichte der Sexualitäten deutlichmachen können. Idealerweise würde der Band damit auch einen methodischen Impuls für die weitere Beschäftigung mit diesem Thema liefern, in der Geschichtswissenschaft, aber auch in den Kunst- und anderen Kulturwissenschaften.
Michael Navratil promoviert an der Universität Potsdam zum kontrafaktischen Erzählen als Modus politischen Schreibens in der Gegenwartsliteratur.