Metropolen in Mittel-, Südosteuropa- und Osteuropa /
Paula Simon: „Das Wichtigste an einem Auslandsaufenthalt sind die Menschen vor Ort“
Paula Simon hat das Metropolenprogramm genutzt, um sich noch intensiver mit dem Balkan zu beschäftigen. Im Interview mit uns berichtet sie, was sie auf ihren Reisen in der Region besonders beeindruckt hat – und von den Gefahren einseitiger Erinnerungspolitik.
Frau Simon, Sie haben während des Programms an der Universität in Belgrad studiert, außerdem Praktika bei NGOs in Belgrad, Sarajevo und Zagreb gemacht. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gesammelt, die Sie heute noch prägen?
Eine der wichtigsten Erfahrungen, die mich bis heute prägen, ist eine, die ich schon bei vorherigen Aufenthalten im Ausland gemacht habe, die sich durch den Umstand, während einer Pandemie in einem fremden Land zu sein, dessen Regeln man noch nicht ganz kennt und dessen Sprache man noch nicht perfekt beherrscht, noch verstärkt hat: Das Wichtigste an einem Auslandsaufenthalt sind die Menschen vor Ort. Das Wichtigste ist es, das Gefühl zu haben, zu jeder Zeit irgendwo ankommen zu können, sich irgendwo fallenlassen zu können und – ganz besonders wichtig: gut zu essen! Die Menschen, die mir diese Sicherheit und diese Warmherzigkeit gegeben und gezeigt haben, habe ich an allen drei Standorten meines Projekts gefunden – eine Erfahrung, die vermutlich nicht balkanspezifisch ist, aber in ihrer Ausgeprägtheit und der Herzlichkeit, mit der ich empfangen wurde, ihresgleichen sucht.
Dies spiegelt sich auch in einer zweiten, wichtigen Erkenntnis wider, die mich bis heute begleitet: Es sind die kleinen Räume und die lokalen Projekte und Bewegungen, die nachhaltig Veränderung bringen. Zum einen, weil sie oftmals wirkliche Herzensprojekte sind und zum anderen, weil lokale Aktivist*innen durch die gute Kenntnis der Lage und Menschen vor Ort oft die nachhaltigsten Strukturen aufbauen können. Dadurch fungieren Sie als Mediator*innen zwischen großen, oft westeuropäischen, Stiftungen und deren Förderung und den Menschen vor Ort. Dies gilt für den Bereich der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebenso wie für den der (LGBTTIQ*)-Menschenrechte, für den Kampf um Klimagerechtigkeit und den gegen Korruption.
Als Historikerin haben Sie sich intensiv mit der Erinnerungskultur auf dem Balkan befasst, besonders mit dem Völkermord an den Roma. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gelangt? Was hat Sie besonders überrascht oder auch berührt?
Das Feld der Erinnerungskultur ist ein weites und es ist gar nicht so leicht, hier abschließende Einschätzungen zu treffen. Was sich für mich mit Sicherheit bestätigt hat, ist, dass in allen drei Ländern, die ich während meines Projekts besucht habe, die auf der Ebene offizieller Geschichtspolitik am weitesten verbreitete Art, den Zweiten Weltkrieg und die Kriege der 1990er Jahre zu erinnern, die des Opfernarrativs der eigenen Nation oder Ethnie ist. Diese Erzählung muss natürlich, egal wie berechtigt sie auch sein mag, immer selektiv die Untaten oder Verbrechen der eigenen Gruppe ausblenden, um zu funktionieren. Dass es Gruppen gibt, die eine größere Zahl an Opfern aus den jeweiligen Kriegen zu betrauern haben als andere, soll hiermit nicht in Frage gestellt werden. Diese Art einseitigen Erinnerns habe ich nicht nur auf Ebene der Geschichtspolitik, sondern auch auf der von lokalen Praktiken des Erinnerns, wie etwa dem Denkmalbau, vorgefunden. Sowohl in Kroatien als auch in Serbien gibt es zwar seit längerer Zeit Bestrebungen, sich symbolpolitisch – was oftmals leider meint: oberflächlich – an den von der EU vorgegebenen Rahmen der Erinnerung anzupassen. Dass eine Zentralisierung der Erinnerung an den Holocaust in diesem oftmals ganz anderen Erfahrungskontext teilweise auf Ablehnung stößt und Politiker*innen ihre Wege finden, um trotzdem die Mittäterschaft an diesem auszublenden und ihn als eine ausnahmslos deutsche Gräueltat darzustellen, ist aus dem zentral- und osteuropäischen Kontext schon bekannt und auch nicht verwunderlich. Was mir Hoffnung gibt, sind kleine Graswurzel-Initiativen und NGOs, die sehr dynamisch und mit großer Kenntnis lokaler Besonderheiten an die „wunden Punkte“ der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit herantreten können. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, in allen drei Ländern in die Arbeit solcher Organisationen Einblick zu erhalten.
Die Motivation und Ausdauer, mit der Aktivist*innen, Historiker*innen, Jurist*innen und Politikwissenschaftler*innen vor Ort diese scheinbar unbezwingbaren Mauern des Unsagbaren und Unmöglichen Tag für Tag in Angriff nehmen, sich für einen multiperspektivischen Ansatz der Erinnerung einsetzen und sich auch durch häufige Rückschläge nicht entmutigen lassen, hat mich überrascht und zutiefst berührt.
Neben Sprach- und Fachstudien stellt das Reisen einen wichtigen Bestandteil des Metropolenprogramms dar. Welche Bedeutung hatte das Reisen für Sie während Ihres Aufenthalts? Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Das Reisen war für mich während meines Aufenthalts von zentraler Bedeutung: es diente der Vermessung des Raumes und der Erarbeitung einer inneren Landkarte der Region. Auch wenn ich auf meinen vorherigen Reisen in die Region schon einen ungefähren Eindruck gewonnen hatte, habe ich durch dieses Auslandsjahr eine sehr wichtige und vertiefte Wahrnehmung der Region „Balkan“ erfahren und mit nach Hause nehmen dürfen. Ich hatte das große Glück, mir von der Mobilitätspauschale ein sehr altes Auto kaufen zu können, sodass ich auch während der pandemiebedingten Einschränkungen (zumindest innerhalb des jeweiligen Landes) sehr flexibel unterwegs sein konnte. So war ich vor dem Beginn meines Semesters in Albanien und Westbosnien auf Reisen, besuchte während des Auslandsjahres zahlreiche Städte in ganz Serbien, sowie das grenznahe Timişoara (Rumänien) und Sofia in Bulgarien. In Bosnien erkundete ich die Herzegowina, fuhr nach Srebrenica und Višegrad, in Kroatien ermöglichte mir das Auto die Durchführung einer Feldforschung zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Slawonien und den Besuch der Gedenkstätte des KZ Kampor auf der Insel Rab. Nicht zuletzt verbrachte ich im Anschluss an die Förderung noch zwei Wochen in Montenegro. Meine zwei steten Begleiter beim Reisen waren dabei meine analoge Kamera (durch deren Sucher ich auf Feinheiten aufmerksam wurde, die ich sonst nie bemerkt hätte) und die interaktive Karte von spomenik database, auf der ich alle auf dem Weg gelegenen Partisanendenkmäler heraussuchte, um ihnen einen Besuch abzustatten.
Was mir davon besonders in Erinnerung geblieben ist, ist die Nähe, die alle von mir besuchten Länder zueinander haben, auch wenn manche Stimmen diese lautstark negieren. Diese Nähe und die Verflechtung, die schon im Kulinarischen, Sprachlichen und in den Bräuchen sichtbar ist, wurde noch deutlicher, als pandemiebedingt die Grenzen geschlossen waren und für wie viele Menschen dadurch die familiären, geschäftlichen oder touristischen Verbindungen in die Nachbarländer unterbrochen waren.
Was war Ihr persönliches Highlight während des Programmjahres?
Da ich mich nicht entscheiden kann, hier meine zwei persönlichen Highlights: Zum einen hatte ich das große Glück, als Teilnehmerin bzw. Beobachterin auf die Sommerschule „School of Different Memories“ der Youth Initiative for Human Rights in Sarajevo mitzufahren. Ziel dieser Sommerschule ist es, jungen Erwachsenen aus allen Teilen des Landes (und damit aus allen ethnischen Gruppen) durch Gespräche mit Betroffenen aller Seiten und dem Besuch von unterschiedlichsten Erinnerungsorten die Vorzüge einer multiperspektivischen Herangehensweise an Geschichte und Erinnerung aufzuzeigen. Für mich war es ganz besonders spannend, nicht nur die Vorträge und Gespräche mitzuerleben, sondern auch die Reflexionsrunden am Ende jedes Tages. So konnte ich sehen, wie die jungen Erwachsenen, die alle ihre eigenen Geschichten mitbringen und sich deswegen mit unterschiedlichen Aspekten des über den Tag Erfahrenen identifizieren können, mit dem Gelernten umgehen, es unter Anleitung der unglaublich gut vorbereiteten und geschulten jungen Leiterin der Schule reflektieren und ihre Schlüsse für die eigene Arbeit als Aktivist*in ziehen.
Das zweite Highlight meines Jahres war mit Sicherheit die Feldforschung in Kroatien, wo ich mit meiner Mitpraktikantin auf mehreren Tagesausflügen in die Region um Glina die dortige Denkmalkultur und Erinnerung an die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs fotografisch dokumentieren durfte. Dass daraus sogar ein Artikel in einem kroatischen Sammelband entstehen wird, rundet diese Erfahrung natürlich auf eine besonders schöne Art ab.
Wie hat das Jahr Ihren Blick auf die Länder des Balkans verändert?
Ich würde nicht unbedingt davon sprechen, dass sich mein Blick auf die Länder des Balkans in diesem Jahr grundlegend verändert hat. Vielmehr habe ich die Möglichkeit gehabt, Annahmen, die ich auf Grundlage meiner vorherigen Reisen in die Region und meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr getroffen hatte, mit Leben zu füllen. Grundsätzlich kann ich sagen, dass sich noch viel deutlicher gezeigt hat, wie viel Eigenes doch im scheinbar Unbekannten und „Fremden“ zu finden ist und wie wichtig es ist, vor Ort eigene Erfahrungen zu sammeln. Nur so kann die Komplexität der Probleme und Möglichkeiten vollständig erfasst werden, die jedwede essentialistischen Charakterisierungen unzulänglich werden lässt.
Ein Großteil der scheinbar „hausgemachten“ Probleme ist sowohl historisch als auch tagespolitisch mit dem westlichen Europa und der EU untrennbar verflochten, viele Strukturen in Westeuropa, wie beispielsweise im Bereich prekärer Anstellungsverhältnisse in der Pflege oder dem Bauwesen, können in ihrer heutigen Form nur aufgrund der wirtschaftlichen Ungleichheit innerhalb unseres Kontinents existieren.
Nicht zuletzt wird diese Verflochtenheit vielleicht gerade dort am grausamsten sichtbar, wo an den Außengrenzen der EU die Menschen mit den Konsequenzen der europäischen Flüchtlingspolitik zu kämpfen haben: Serbien, Bosnien und Herzegowina und Griechenland.
Was nehmen Sie mit vom Programm, persönlich wie auch wissenschaftlich oder beruflich? Und wie geht es für Sie weiter, insbesondere mit Blick auf die weitere Beschäftigung mit dieser Region?
Wie schon erwartet, nehme ich als wichtigste Erkenntnis mit, dass ein ganzes Leben nicht ausreichen wird, um die Komplexitäten und Besonderheiten dieser Region jemals ganz erforscht zu haben. Es scheint, als habe ich im Universum „Balkan“ nur eine weitere Galaxie erkundet und kenne nicht mal hier wirklich alle Sterne beim Namen. Das heißt für mich jedoch nur, dass das Lernen, Lesen und Reisen nie aufhören wird und ich es kaum erwarten kann, mich in mein Masterarbeitsprojekt zur Verfolgung der Roma unter deutscher Besatzung in Serbien zu stürzen.
Für meine Pläne bedeutet das außerdem, dass ich mich auch im Rahmen meiner Dissertation noch weiter in diesem Universum verlieren möchte und dass ich es mir sehr gut vorstellen könnte, am Ende meine Leidenschaft auch mit meinem Beruf zu verbinden. Indem ich beispielsweise in einer Stiftung oder einer NGO vor Ort versuche, zwischen Wissenschaft und einer breiteren Öffentlichkeit vor Ort zu vermitteln und zum anderen auch eine Brückenfunktion zwischen Südosteuropa und Westeuropa einzunehmen.
Paula Simon, 27, studiert aktuell „Global History“ im Master an der Universität Heidelberg. Sie war Stipendiatin des 15. Jahrgang des Stipendienprogramms „Metropolen in Osteuropa“, gefördert von Oktober 2019 bis September 2020. Simon ist auch Stipendiatin der regulären Studienförderung der Studienstiftung.
Stand: Januar 2021