Porträt

Rick Wolthusen

Public Policy

Harvard Kennedy School, Cambridge/USA

Rick Wolthusen studiert Public Policy an der Harvard Kennedy School, Cambridge/USA. Für sein ehrenamtliches Engagement erhält er den Engagementpreis der Studienstiftung 2019.

Manchmal, wenn Rick Wolthusen in der Oper sitzt, denkt er für einen kurzen Moment darüber nach, wie es wäre, wenn er jetzt selbst dort stünde. Aber nur wenige Sekunden später verwirft er das Gedankenspiel auch schon wieder: „Ich liebe es, mit Menschen zusammenzuarbeiten – das gelingt mir als Arzt besser als auf der Bühne. Insofern bin ich mir absolut sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.“

Dabei gab es eine Zeit, in der die Musik so aussichtsreich schien wie die Medizin:  „Ich habe am Gymnasium in Hoyerswerda eine vertiefte musikalische Ausbildung genossen, Klavier gespielt und gesungen. Zwölf Stunden Musik in der Woche – da war viel Spaß dabei und eine tolle Gemeinschaft“, erinnert sich der McCloy-Stipendiat, der aktuell in Boston lebt und Public Policy an der Harvard Kennedy School in Cambridge studiert.

Überhaupt sei er gerne zur Schule gegangen, war Klassen- und Schulsprecher und habe bis zum Abitur alle Fächer gern gemocht. „Am Ende habe ich mich gar nicht bewusst gegen die Musik, sondern für die Medizin entschieden, weil sie so breit gefächert ist und die soziale Komponente eine entscheidende Rolle spielt“, erklärt der 28-Jährige.  Allerdings begleite ihn die Musik bis heute.

Praktikum in Ghana

Mit einem brillanten Abitur in der Tasche, beginnt der junge Mann an der TU Dresden Medizin zu studieren. In den Semesterferien tingelt er durch Europa. Die Reise, die sein Leben verändert, beginnt 2010,  als Rick Wolthusen in den Flieger steigt, um ein siebenwöchiges Praktikum im Central Aflao Hospital in Ghana zu absolvieren.

Aflao ist eine Küstenkleinstadt an der Grenze zu Togo. Es ist Wolthusens erster Kontakt zum afrikanischen Kontinent, der aber seinen Blick auf das Leben nachhaltig formt: „Dieser menschliche Umgang fasziniert mich, die Wichtigkeit von Familie und Freunden, zu sehen, dass es einen anderen Zugang zum Leben und zum Tod gibt – das alles war und ist eine große Bereicherung“, erzählt er.

Fachlich lernt der Student in jener Zeit viel dazu – vor allem über Infektionskrankheiten. Er muss zudem Diagnosen stellen ohne bildgebende Verfahren wie Röntgen, Ultraschall oder MRT, die in Deutschland zum medizinischen Alltag gehören. „Meine Mentoren waren unglaublich gut ausgebildet“, so Wolthusen. Aber es gibt auch Situationen, in denen er an seine Grenzen stößt: So erleidet in seinem Beisein ein 40-jähriger HIV-Patient mit Malaria einen Herzstillstand. Der behandelnde Arzt lehnt eine Wiederbelebung mit der Begründung ab, dass der Tod Gottes Wille sei.

„Ich wollte den Patienten reanimieren – wie jeder andere Arzt in Deutschland es auch versucht hätte. Diese Situation hat mich vor eine große Herausforderung gestellt: Leben retten oder kulturelle Werte akzeptieren. Diese Diskrepanz hat sich bis heute nie ganz aufgelöst und mich dahingehend verändert, noch besser verstehen zu wollen, warum manche Menschen tun, was sie tun.“

Ein neues Zuhause

Als Wolthusen die Heimreise antritt, weiß er, dass er wiederkommen will: „Für mich war es die wichtigste Reise meines Lebens – unabhängig von meiner Arbeit. Ich habe seitdem dort Familie und Freunde. Das Land ist für mich wie ein Zuhause!“

2012 kehrt der Medizinstudent für ein zweimonatiges Praktikum nach Ghana zurück. Ein weiteres Extremerlebnis bildet schließlich den Grundstein für die Vereinsarbeit von „On The Move e.V.“: „Mein betreuender Arzt, Leiter eines Krankenhauses, gehört zu den besten Ärzten, die ich je kennen gelernt habe“, so Wolthusen. Irgendwann sei ihm allerdings aufgefallen, dass es im Krankenhaus nicht einen einzigen Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose gibt. Wolthusen spricht seinen Chef darauf an. „Die verdienen keine Behandlung“, bekommt der junge Mann zu hören.

Wenn Wolthusen sie sehen wolle, müsse er ins Psychiatrie-Krankenhaus nach Accra fahren. Was Wolthusen auch tut – und schockiert erlebt: „Die Menschen werden weggesperrt, angekettet, gefoltert und medikamentös ruhig gestellt. Sie vegetieren dort in ihren Fäkalien vor sich hin.“ In dieser Deutlichkeit war ihm bis dahin nicht bewusst, dass Menschen mit psychischen Störungen in Ghana, aber auch in anderen subsaharischen Ländern diskriminiert und stigmatisiert werden.

„Und zwar nicht nur verbal, wie wir es aus Deutschland kennen, sondern auch körperlich“, erklärt Wolthusen. Ihm gehe es nicht darum, Schuld zuzuweisen: „Das System, so wie es dort angelegt ist, kann nicht anders, als psychisch kranke Menschen wegzusperren.“ Die Regierungen bestreiten, dass es sie überhaupt gibt. Statistiken belegen aber das Gegenteil

„Es wird einfach verschwiegen – folglich gibt es keine Gelder und Ressourcen, um zu helfen“, so Wolthusen, der diese offensichtliche, tagtägliche Verletzung von Menschenrechten nicht einfach hinnehmen möchte: „Diesen tiefgreifenden, beunruhigenden Moment nahm ich zum Anlass, die medizinische und gesellschaftspolitische Situation dieser Patienten verbessern zu wollen,  ihnen das notwendige Wissen und die Kraft zu geben, als eine Stimme in der Gesellschaft hörbar zu sein und nicht nur für sie, sondern mit ihnen zu kämpfen.“

„On The Move“ gegründet

Als Konsequenz gründet der Hoyerswerdaer 2013 gemeinsam mit einer Freundin den Verein „On The Move“. Die beiden nutzen jede Gelegenheit, um nach Ghana zu reisen und die Menschen darüber aufzuklären, dass das Gehirn krank werden kann – wie jedes andere Organ auch. Sie betreiben Aufklärungskampagnen in den Schulen, halten Vorträge vor „lokalen Königen“, in Kirchen und Gemeinden sowie im regionalen Radio. Gleichzeitig stärken sie Patientenrechte in einer Umgebung, in der es kaum Präventionsangebote und Behandlungsmöglichkeiten gibt.

Seit der Gründung vor sechs Jahren hat sich viel getan: Inzwischen arbeiten rund 100 Menschen – ein Viertel davon sind Patienten – aus Deutschland, Ghana, Kenia und den USA daran, die Ziele des Vereins umzusetzen. So hat „On The Move” Fahrradläden und Nähcafés eröffnet, in denen ausgebildete Patienten arbeiten. „Medizinisch betreut, können sie nun Geld verdienen, Medikamente kaufen und sich wieder in die Gesellschaft integrieren“, berichtet Wolthusen. In den beiden neu entstandenen Zentren für Mentale Gesundheit in Ghana und Kenia, den „Home of Brains“, finden Prävention, Behandlung und Rehabilitation statt – basierend auf Forschung. Mit dem Engagementpreis 2019 würdigt die Studienstiftung Wolthusens so umfassenden Einsatz, Patientinnen und Patienten in die Gesellschaft zu integrieren.

Langfristig will der Verein mit den Betroffenen vor Ort nachhaltige Strukturen aufbauen, die es den Vereinsmitgliedern ermöglichen,  in Ghana selbst ihr Engagement zu reduzieren, um es anderswo verstärken zu können. Denn der Bedarf in Subsahara ist groß. So hat Wolthusen erst kürzlich die ehemalige senegalesische Ministerpräsidentin Aminata Touré getroffen. Auch sie sieht für den Senegal großen Handlungsbedarf. „Daran wollen wir anknüpfen!“, sagt Wolthusen, der zwischen Afrika, Europa und Nordamerika pendelt.

Arzt und Forscher

Ob „On The Move“ auf Dauer als Verein weiterarbeite oder ein Geschäftsmodell auf den Weg bringe, sei noch ungeklärt: „Als Verein – und damit habe ich mich auch in Harvard beworben – haben wir viele Projekte angestoßen und auf den Weg gebracht, die in unterschiedlichen Ländern erfolgreich laufen. Aber gehört die Entwicklungszusammenarbeit im Bereich mentaler Gesundheit wirklich zu den Aufgaben eines Vereins?“, hinterfragt Wolthusen kritisch. In seinem Studiengang Public Policy gehe es unter anderem darum, wie er Interessensgruppen aus dem öffentlichen und privaten Sektor dafür gewinnen kann, die mentale Gesundheit der Menschen und die Ressourcen vor Ort zu verbessern.

Ob nun in Ghana, Kenia, Deutschland oder in den USA, ob für den Verein oder für andere weltweit tätige Organisationen: „Ich will weiterhin mit Menschen arbeiten und keinesfalls nur als Arzt nach medizinischen Leitlinien praktizieren“, so der 28-Jährige, der 2017 sein Medizinstudium beendet hat und sich 2019 in den USA für die Ausbildung zum Facharzt in Psychiatrie bewerben will. Denn neben seinem ehrenamtlichen Einsatz und dem Public Policy-Studium ist er auch leidenschaftlicher Forscher im Bereich Psychiatrie und verknüpft seine wissenschaftliche Ader mit den Programmen des Vereins.

Verbunden bleibt er in jedem Fall seiner Heimat Hoyerswerda: Regelmäßig unterrichtet er nicht nur an der Pflegefachschule in Hoyerswerda Psychiatrie und Neurologie, sondern auch Englisch an seinem ehemaligen Gymnasium. „Ich will meine Erfahrungen und meine Begeisterung an junge Menschen weitergeben, dieser Austausch liegt mir am Herzen“, sagt Wolthusen.

Stand: Mai 2019

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