Page 8 - Jahresbericht 2018
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6 Vorwort des Präsidenten Rand des politischen Spektrums? Hat der Begriff des „Volkes“ überhaupt ei- nen vernünftigen inhaltlichen Sinn oder Bezug? In der Tat ist dieser Begriff historisch so vielschichtig und auch vieldeutig wie wenige andere. Im Grimm’schen Deutschen Wörterbuch werden nicht weniger als vierzehn ver- schiedene Bedeutungen angegeben, zudem eine enorme Anzahl von Zusam- mensetzungen, die „von groszem interesse für die bedeutungsgeschichte des wortes sind“. Als älteste Bedeutung wird eine geschlossene Abteilung von Kriegern, ein Heerhaufe, genannt. Geläufiger ist uns bis heute die Bezeich- nung einer Menge von Menschen als „Volk“, insbesondere solcher von gerin- gerem Status. So übersetzt etwa Martin Luther den griechischen Begriff óchlos in Matthäus 14, 14 (lateinisch: turba) als „Volk“: „Und Jesus ging hervor und sahe das große Volk“. Dabei ist charakteristisch, dass „Volk“ häufig durch Ausdrücke wie „viel“ oder „allerlei“ ergänzt wird; so etwa in Matthäus 8, 1 („fol- gete ihm viel Volks nach“ – deutsch für óchloi polloí bzw. turbae multae). Von hier aus ist es nicht weit zum Gebrauch des Wortes „Volk“ in einem „abspre- chenden oder verächtlichen sinn“ (also als eine Art Äquivalent von Pöbel). Eine deutlich anti-elitäre Note erhält der Begriff, wenn er die große Masse der Bevölkerung im Gegensatz zu einer Oberschicht oder Elite bezeichnet („ein Mann aus dem Volk“). Daneben hat „Volk“ schon seit alters eine auf Unter- scheidung zielende Konnotation, indem eine Gesamtheit von Menschen ge- meint sein kann, die sich durch Sprache und Abstammung von anderen Ge- samtheiten absondert. Das wird deutlich etwa in der Auserwählung von Israel als „Volk Gottes“. In der Romantik kommt es dann zu einer „Veredelung“ des Begriffs; sie ent- spricht dem „wachsende\[n\] interesse für das innere leben des volkes, seine sitte, dichtung, u. weisheit ..., man sieht in dem volke den unbefangenen, kern- und wurzelhaften, unverbildeten, charakteristischen theil der gesell- schaft“. Es war die Zeit der liebevollen Sammlung von Volksliedern, Volkssa- gen und Volksmärchen; es war die Zeit der Wiederbelebung und Standardi- sierung der Volkssprachen; und es war die Zeit, als – im Anschluss an Johann Gottfried Herder – Volk, Volkskultur und Nation in eins gesetzt wurden, und als man sich in Deutschland als Kulturnation zu verstehen begann. Es ist nicht schwer zu sehen, wie solche Ideen im Deutschland der 1920er- und 1930er-Jahre weltanschaulich vereinnahmt werden konnten; wie also zu- nächst Romane wie Volk ohne Raum (Hans Grimm) oder auch die Zeitschrift Deutsches Volkstum (Wilhelm Stapel) erscheinen konnten, bis es dann hieß: „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“, und bis im Februar 1933 eine Verordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ (die „Reichstagsbrandverordnung“) und ei- 


































































































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