Nico Müller: „Ein faszinierendes und facettenreiches Land mit warmherzigen Menschen“

Nico Müller hat im Rahmen des China-Stipendien-Programms der Studienstiftung in Beijing gelebt und studiert. Im Gespräch erzählt er, was er dort erlebt hat.

Herr Müller, wann haben Sie begonnen, sich für China zu interessieren, und was war ausschlaggebend für Ihre Entscheidung, ein Jahr in China zu studieren?

Obwohl ich in Deutschland aufgewachsen bin, hatte ich durch Verwandtschaftsbesuche in Shanghai schon seit klein auf Kindheitserinnerungen an China. Echtes Interesse an China begann sich jedoch erst während der Schulzeit zu entwickeln, als ich anfing jedes Wochenende die chinesische Sprache in einer Chinesisch-Schule zu lernen. In diesem Rahmen setzte ich mich mit verschiedenen Aspekten dieses Landes auseinander, hauptsächlich aber mit Literatur, Geschichte, Kultur Chinas sowie Kulturunterschieden zwischen China und Deutschland. Da ich gleichzeitig in meinem Schulalltag und Freundeskreis oftmals mit Nichtwissen oder Vorurteilen zu China konfrontiert wurde, beschloss ich nach meinem Abitur 2014, mir ein eigenes Bild von China zu machen. In diesem Rahmen absolvierte ich für ein Jahr in Shanghai ein Sprachstudium und versuchte, mit in den Lebensalltag meiner chinesischen Kommiliton*innen einzutauchen.

Während meines Studiums der Molekularen Biotechnologie in Heidelberg seit 2015 schien der Blick auf China oft auf zwei Gebiete fokussiert: Erstens, auf den rasanten Fortschritt in China in wissenschaftlichen Gebieten und zweitens, wenn es um ethisch umstrittene Forschung in China ging, zum Beispiel die Anwendung der Genschere CRISPR-Cas9 an humanen Embryonen. Ich persönlich wollte für mich vor Ort erleben, wie Wissenschaft in China gemacht wird. Das war der Hauptgrund, wieso ich für ein Jahr in China studieren wollte.

Sie haben an der Tsinghua Universität, School of Life Science, in Beijing studiert. Wie sah Ihr Studien- und Lebensalltag aus?

Von den gelehrten Themen und der fachlichen Tiefe ähnelte das Studium dem an meiner Heimatuniversität in Heidelberg, doch der gesamte Studienalltag war strukturierter, verschulter. Gleichzeitig wurde man durch wöchentliche Hausaufgaben und Präsentationen stärker gefordert und in die Verantwortung genommen, sich kritisch mit den gelehrten Themen auseinanderzusetzen. Der Lebensalltag an der Tsinghua-Universität bot alles, was man sich ausdenken kann. Da der Universitätscampus durch einen Zaun von der restlichen Stadt abgetrennt ist, spielt sich das Leben hauptsächlich auf dem Campus ab. Ich war Teil des Department-Schwimmteams, der A-Capella-Gruppe, des Kung-Fu-Teams, und habe mich zudem bei der Roten-Kreuz-Gruppe engagiert. Die Möglichkeit, trotz eines vollen Studiums an mannigfaltigen Studierendenaktivitäten teilnehmen zu können, fand ich unglaublich bereichernd und etwas, was ich in Deutschland zuvor vermisst hatte.

Welche Erfahrungen oder Erlebnisse haben Sie rückblickend am stärksten geprägt, und was vermissen Sie besonders, wenn Sie an Ihre Zeit in China zurückdenken?

Die Erlebnisse, die mich am stärksten geprägt haben, fanden im Austausch mit chinesischen Student*innen statt. Es gab für mich nicht den einen einschneidenden Moment, sondern eher jeden Moment, in dem ich sah und lernte, wie chinesische Student*innen mit universitären, gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen umgingen, fand ich besonders prägend. In einem Gespräch ging es um eine noch fehlende psychosoziale Betreuung von Student*innen, welche sich in ihrem Studium überfordert fühlen oder aus anderen persönlichen Gründen psychische Probleme bekommen. Obwohl es an der Tsinghua-Universität dennoch eine kleine Gruppe an Student*innen gibt, die ehrenamtlich ein Seelsorge-Telefon betreiben, haben mir meine Freunde gesagt, dass es dennoch am Unicampus bestimmte Plätze gibt, wo man zu bestimmten Zeiten im Semester sehr oft weinende Student*innen antrifft.

Ihr Studienaufenthalt kam im Januar 2020 durch den Ausbruch der Corona-Pandemie zu einem jähen Ende. Wie haben Sie die Situation vor Ort erlebt?

Im Januar 2020 bin ich kurz vor dem chinesischen Neujahr nach Shanghai gereist. Zu der Zeit war das Coronavirus noch auf Wuhan begrenzt. Doch als mit jedem Tag die Infektionszahlen in anderen Städten und Provinzen anstiegen, wurde die Stimmung angespannter. Zum Neujahrsfest war Shanghai wie ausgestorben, die Straßen waren leergefegt, Familien- und Freundestreffen blieben aus. Ich konnte leider nicht nach Beijing zurückkehren, da die Tsinghua-Universität sich abgeriegelt hatte. Aus diesem Grund musste ich schweren Herzens nach Deutschland zurückkehren, und nicht nur meine ganzen Freunde ohne Verabschiedung zurücklassen, sondern auch meine ganzen Sachen in meinem Wohnheimzimmer.

Wie hat Ihr Aufenthalt Ihren Blick auf China verändert?

Durch meinen Aufenthalt habe ich gemerkt, wie groß die Differenz zwischen dem politischen China und dem Lebensalltag der Menschen ist. Außerdem habe ich realisiert, wie viel komplexer die Realität in China im Vergleich zu ihrer Darstellung in deutschen Medien ist. Im Vergleich zu meinem ersten Aufenthalt habe ich dieses Mal ein gesteigertes Selbstverständnis des Landes wahrgenommen. In vielen spezifischen Unterrichtsstunden ging es darum, wie man als Land international noch besser in der Wissenschaft sein kann, und was noch fehlt, um zum Beispiel Nobelpreisträger*innen hervorzubringen. Mir ist das so prägnant aufgefallen, weil Wissenschaftspolitik in Deutschland nie in Vorlesungen thematisiert wird. Parallel habe ich im Gespräch mit Student*innen gemerkt, dass viele Themen, sobald sie eine politische Komponente bekamen, umschifft wurden, selbst wenn aus meiner Sicht das Thema eigentlich unkontrovers ist, beispielsweise wenn es um die Behandlung von Waisenkindern mit HIV ging.

Nach wie vor finde ich China ein unglaublich faszinierendes und facettenreiches Land mit unglaublich warmherzigen Menschen. Daher kann ich mir in Bezug auf meine zukünftige Berufsplanung gut vorstellen, mich trotz eines Studiums der Molekularen Biotechnologie mehr mit Themen auseinandersetzen, die mit China und Chinas Bedeutung in der Welt zu tun haben.

Nico Müller, 25, studiert Molekulare Biotechnologie im Master an der Universität Heidelberg. Er war Stipendiat des 32. Jahrgangs des China-Stipendien-Programm der Studienstiftung, gefördert von September 2019 bis (pandemiebedingt nur) Januar 2020. Müller ist auch Stipendiat der regulären Studienförderung der Studienstiftung.

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